Schritt 2

Erkenne Dich selbst!

„Es ist eine so wichtige Sache, dieses Erkennen unseres eigenen Ichs, dass ich wünschte, ihr möchtet niemals darin ermatten, so hoch ihr auch in den Himmeln empor gestiegen sein möget. Solange wir uns auf dieser Erde befinden, gibt es nichts, was für uns wichtiger wäre, als die Demut. Und darum sage ich nochmals, dass es sehr gut und ganz vortrefflich ist, wenn man danach strebt, zuerst in jenes Gemach zu gelangen, wo es um diese Tugend geht, ehe man zu den anderen fliegt. Denn dies ist der Weg. O Seelen, die ihr losgekauft seid mit dem Blute Jesu Christi! Erkennet euch und habt Erbarmen mit euch selbst! Kann es etwas Schlimmeres geben, als dass wir uns in unserem eigenen Haus nicht zurechtfinden? Wie können wir hoffen, in anderen Häusern Ruhe zu finden, wenn wir sie im eigenen nicht zu finden vermögen“?

-Theresa von Avila-

„Am Tor dieser Stadt und zu Hause am Herd habe ich euch niederfallen sehen und eure eigene Freiheit anbeten, so wie sich Sklaven vor einem Tyrannen erniedrigen und ihn preisen, obwohl er sie schlägt. Ja, im Tempelhain und im Schatten der Zitadelle habe ich die Freiesten von euch gesehen, wie sie ihre Freiheit trugen als Joch und als Fessel.

Und es blutete mir das Herz. Denn frei sein könnt ihr nur, wenn selbst der Wunsch nach Freiheit euch zum Knebelwerk wird und wenn ihr aufhört, von Freiheit als Ziel und als Erfüllung zu sprechen.

 

Ihr werdet erst dann wahrhaft frei sein, nicht wenn eure Tage ohne Sorge und eure Nächte ohne Verlangen und Schmerz vergehen. Sondern wenn diese Dinge euer Leben umgürten und ihr euch dennoch nackt und ungebunden über sie erhebt. Und wie solltet ihr über eure Tage und Nächte hinaus, wenn ihr die Ketten nicht sprengt, die ihr am Morgen eurer Erkenntnis der eigenen Mittagsstunde angelegt habt?

 

In Wahrheit ist, was Freiheit ihr nennt, die stärkste dieser Ketten, auch wenn ihre Glieder in der Sonne glitzern und eure Augen blenden. Und sind es nicht immer nur Bruchteile eures Selbst, die ihr hingeben würdet, um eure Freiheit zu erlangen?

 

Wenn es ein ungerechtes Gesetz ist, das ihr abschaffen wollt, dann wurde dieses Gesetz von eigener Hand geschrieben und auf eure eigene Stirn. Ihr könnt es nicht auslöschen, indem ihr eure Gesetzesbücher verbrennt oder euren Richtern die Stirn wascht, auch wenn ihr den Ozean über sie ausgießt.

 

Und wenn es ein Tyrann ist, den ihr entthronen wollt, so achtet zunächst darauf, das ihr seinen Thron in Euch zerstört. Denn wie kann ein Tyrann die Freien und Stolzen beherrschen, wenn nicht durch Tyrannei in ihrer eigenen Freiheit, wenn nicht durch Scham in ihrem eigenen Stolz?

 

Und wenn es eine Sorge ist, die ihr abwerfen wollt, dann ist diese Sorge selbst gewählt, nicht euch auferlegt worden.

 

Und wenn es eine Furcht ist, die ihr zerstreuen wollt, dann lebt diese Furcht in Euch selbst und jetzt in der Hand des Gefürchteten.

 

Wahrlich, alles befindet sich in eurem Sein in dauernder unvollständiger Umarmung, das Erhoffte und das Gefürchtete, das Abstoßende und das Geliebte, das Erstrebte und das, dem ihr hofft zu entfliehen. All dies befindet sich in euch wie Lichter und Schatten in Paaren, die zueinander gehören. Und wenn der Schatten sich auflöst und nicht mehr da ist, dann wird das Licht, das zurückbleibt, der Schatten eines anderen Lichts. Und genauso wird eure Freiheit, wenn ihre Fesseln sie abstreift, die Fessel einer größeren Freiheit.“

-Khalil Gibran-